Pierre Stutz zu Gast in Eupen

Text und Fotos von Lothar Klinges

Spiritualität: Die Zwei-Stände-Kirche – Priester und Laien – widerspricht der Botschaft Jesu

Biografie als Ermutigung für andere, im Leben zu wachsen

 

Eupen

 

„Die Selbstliebe ist jenes Fundament, in dem wir eine göttliche Segenskraft erfahren können, die uns alltäglich bestärkt, uns auch für die Menschenrechte und den Schutz der Natur einzusetzen“, sagte der bekannte Schweizer Bestsellerautor Pierre Stutz anlässlich eines Begegnungsabends in Eupen. Er litt Jahrzehnte lang unter seiner Homosexualität. Ein Zusammenbruch mit 38 Jahren hat ihn befreit.

 

In seiner publizierten Autobiografie konzentriert sich der Bestsellerautor auf das, was der Titel verheißt: Wie ich der wurde, den ich mag. “Ich kann nicht ein Liebender sein, wenn ich mich selbst nicht liebe. Ich wurde so erzogen, immer für andere da zu sein. Aber gelernt sich zu wehren oder zu mir zu stehen, das habe ich mir erst viel später erarbeitet”, sagte Pierre Stutz, der hier schon lange kein Unbekannter ist. Es gibt sogar einen Freundeskreis “Pierre Stutz, Ostbelgien”. Am Freitagabend gastierte der 71-jährige spirituelle Buchautor und Begleiter auf Einladung der Kooperationsgruppe Vikariat Ostbelgien, Ländliche Gilden und Landfrauenverband in Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis „Pierre Stutz – Ostbelgien“ im Eupener Kulturzentrum Alter Schlachthof und berichtete aus seinem Leben als einem inneren und äußeren Befreiungsprozess.

 

Frei und geborgen waren die Schlüsselwörter des Gesprächsabends mit Pierre Stutz: Frei werden durch das Umkreisen der Lebensthemen, die ihn belasten und Geborgenheit finden in einer Liebesbeziehung, in der er sich behütet und angenommen fühlt.

 

Am Abend erlebten die etwa 200 aufmerksamen Zuhörer den Weg des kleinen Pierre, der 1953 in der Schweiz als Peter geboren wird, noch einmal mit. Am Tag der Geburt wurde seine Vater zum Bürgermeister gewählt– und die Familie lebte fortan wie auf dem Präsentierteller. Er erlebte Dankbarkeit und Fürsorge in der Familie, aber auch, wie alles sich an der vorherrschenden Meinung im Dorf unterzuordnen hatte.

 

Der kleine Pierre war 6 Jahre alt, als er von einem unbekannten Mann, außerhalb von Familie und Kirche, in eine Falle gelockt wurde, brutale, sexuelle Gewalt erfuhr. Weil er niemanden davon erzählen konnte, wurde sein Vertrauen zerstört, Nähe wurde zum Problem. Pierre Stutz verlor seine Kindheit, und es dauerte über drei Jahrzehnte, bis er darüber sprechen konnte.

Wie ein roter Faden zog sich das Bekenntnis zu seiner Homosexualität, die er jahrelang unterdrückte. Mit dem Besuch eines Jahresinternats brach eine Wunde auf, begann sein unerbittlicher Kampf gegen seine Homosexualität, ein Kampf, der fast vier Jahrzehnte andauern sollte.

 

Viele Episoden, von denen Pierre Stutz erzählte, berührten die Zuhörer tief, wie z. B. sein Zusammenbruch inmitten der Teamkollegen vor seinem Coming out oder wie er seinen Lebenspartner Harald in einer Wanderwoche kennen- und lieben lernte. Andere Geschichten zeigten einen willensstarken Menschen, der ohne Angst und von einem inneren Feuer getrieben, konsequent seinen Überzeugungen folgte, z. B. mit der Gründung des offenen Klosters in der Abbaye de Fontaine-André in Neuchâtel.

 

Seine Lebensgeschichte beeindruckte durch die Art und Weise, wie er von seinem Leben sprach, nämlich dass seine eigene Biografie eine Ermutigung für andere ist, im Leben zu wachsen und die eigenen Talente auszuleben. Liebe und Leiden hat er als die stärksten Verwandlungskräfte im Leben entdeckt.

 

Es war ergreifend, seinen jahrzehntelangen Kampf als erfolgreicher, leidenschaftlicher und schwuler Priester mitzuerleben. Pierre Stutz kämpfte gegen seine Homosexualität an, denn hätte er sich zu seiner Sexualität bekannt oder sie gar leben wollen, hätte er im selben Moment seine priesterliche Berufung verloren, die ihm so wichtig war und die ihn erfüllte.  Mit 48 Jahren outet Pierre Stutz sich mit einem öffentlichen Brief. Mit 49 lernte er seinen heutigen Mann Harald kennen, seit 2018 sind die beiden verheiratet und leben in Osnabrück.  Pierre Stutz zählt zu den Prominenten, die an der Aktion “#OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst” teilgenommen haben. Diese Fernsehdokumentation traf einen Nerv, löste 2022 ein gewaltiges Echo aus und wurde vielfach preisgekrönt.

 

Im Anschluss beantwortete Pierre Stutz zahlreiche Fragen aus dem Publikum, so auch die Frage, wie er sich dem Schmerz und der Trauer gestellt hat, ohne dabei zugrunde zu gehen. “Das war ein steter Balanceakt für mich, an dem ich letztlich gewachsen bin. So weit, dass ich mir endlich sagen konnte: Nimm dich an. Als Mensch bist du zur Freiheit berufen.”

 

In seinem Umfeld habe er viel Unterstützung auf seine Biografie gefunden. Eine Person habe ihm allerdings geschrieben, dass er in die Hölle komme, worauf Pierre Stutz geantwortet hat: “Mich kann niemand in die Hölle schicken. Ich komme nämlich aus der Hölle.”

 

Der Autor gehört zu den kritischen Geistern in der katholischen Kirche. Trotz seiner schwierigen Erfahrungen in und mit ihr, ist er nicht aus dieser Kirche ausgetreten. “Nicht austreten, sondern auftreten, denn der Glaube ist größer als die Kirche, und Gott ist schon immer da.” Er möchte  die Kirche nicht den Hardlinern und Kleinkarierten überlassen, die gegen jede Veränderung sind und die Macht nicht abgeben wollen. “Die Kirchenkrise wird immer stärker, solange es eine Zwei-Stände-Kirche – Priester und Laien – gibt, die der Botschaft Jesu widerspricht”, unterstrich Pierre Stutz.

 

Pierre Stutz bleibt sich treu, zeigt seine Wunden, seine Unvollkommenheiten, das so oft mühsame Ringen um Zuversicht, Mut, um Selbstakzeptanz als Aufforderung, über sich hinauszuwachsen und sich nicht von anderen blenden zu lassen. Denn: „Es ist nie zu spät, so zu werden, wie wir von Anfang an gemeint sind: geborgen und frei.“